Hier einige Szenarien zum Reflektieren:
Am Beispiel der Suche nach dem Schädel des Chagga-Anführers Mangi Meli lässt sich zeigen, wann DNA-Analysen von Vorteil sein können. 1900 wurde Mangi Meli von den deutschen Kolonialherrschern im damaligen Deutsch-Otafrika gehängt und sein Schädel wurde nach Deutschland verschleppt (We want them back, S. 34).
Nach langer Initiative (?) und zahlreichen Hürden konnten die Angehörigen schließlich sechs infrage kommende Schädel an der Berliner Charité bzw. Stiftung Preußischer Kulturbesitz ausmachen. Die Angehörigen verlangten eine DNA-Analyse und stellten ihre eigene DNA zum Vergleich bereit. So konnte bewiesen werden, dass es sich bei einigen der Schädel um identifizierbare Personen aus derselben Community handelt und es ebenfalls lebende Nachfahren in Tansania gibt- (https://taz.de/Umgang-mit-menschlichen-Ueberresten/!5956616/).
In diesem Fall gab es also eine konkrete Fragestellung, die Bestimmung einer Identität durch familiäre Abstammungsanalyse, die nur durch die DNA-Analyse geklärt werden konnte. Zudem waren die Angehörigen involviert und stimmten der invasiven Methode und der damit verbundenen Probenentnahme zu. Mittels DNA die Identität einer Person eindeutig zu bestimmen kann so also gelingen und ist ein wichtiger in der Repatriierung menschlicher Überreste.
Was aber, wenn nach sorgfältiger Analyse der Dokumente über die menschlichen Überreste und einer anthropologischen Analyse noch entscheidende Hinweise zur Klärung der Herkunft fehlen? Eine der ersten und wichtigsten Fragen ist dabei, wie Herkunft definiert werden soll. Wenn wir von einer genetischen Herkunft ausgehen, so erwarten wir eine gewisse geografische Region, die sich eindeutig in den Genen der Person widerspiegelt. Abgesehen davon, dass mit der Herkunftsregion weitere Informationen, wie Religion oder ethnische Zugehörigkeit nur assoziiert werden können, muss auch bedacht werden, dass ein DNA-Test sehr variable Ergebnisse über Herkunftsregionen liefern kann. Das liegt beispielsweise an der Rekombination von Chromosomen in den Gameten, wodurch jeder Mensch, auch Verwandte, über einen einzigartigen Chromosomensatz verfügen. Je weiter in die Vergangenheit geschaut wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Vorfahren einer Person in ihrem Genom exprimiert sind. Wenn ein DNA-Test also bestimmte Herkunftsregionen angibt, dann kann es auch ein statistischer Zufall sein, dass genau diese DNA durch Rekombination vererbt wurde. Außerdem zeigt der Test keine verwandtschaftlichen Verhältnisse an, sondern die genetische Ähnlichkeit zu heute lebenden Menschen.
In diesem Video wird die Problematik ausführlicher erklärt: https://www.youtube.com/watch?v=YiydsMxOdM8
Kann eine DNA-Analyse also überhaupt weiterhelfen?
Teilweise ja, zumindest wenn die Dokumente oder Archivmaterialien bspw. Narrative zweier unterschiedlicher Herkunftsregionen angeben. In diesem Fall könnte die entnommene DNA in eine Datenbank eingespeist und dort mit gespeicherten DNA-Proben verglichen werden, um die Zugehörigkeit zu einer Region zu klären. Hierbei sind jedoch weitere Limitationen zu beachten: die Probe kann nur mit dem verglichen werden, was auch in der Datenbank gespeichert ist. So wird die Analyse einer Person "nicht-europäischer" Herkunft im Vergleich mit einer Datenbank mit ausschließlich "europäischen" Samples keine sehr gute Auflösung in den Ergebnissen erzielen. Leider sind die Datenbanken hauptsächlich durch Proben aus dem globalen Norden geprägt, was den Vergleich mit Proben aus dem globalen Süden sehr einschränkt. Ausgerechnet diese Regionen sind aufgrund kolonialer und Unrechtskontexte allerdings häufig relevant für die Provenienzforschung. Zudem gibt es aufgrund der vergangenen oder aktuellen Unrechtskontexte oft ein Misstrauen der betroffenen Gruppen gegenüber Forschenden aus dem globalen Norden, welche möglichst diverse Datenbanken aufbauen wollen - auch weil es teilweise eine Motivation gibt “exotische” DNA zu sammeln.
Zurück zu den menschlichen Überresten deren Herkunft ich klären möchte: Wenn ich herausfinden möchte, ob diese aus Nordeuropa oder Südostasien stammen, dann ist dies eventuell über eine DNA-Analyse möglich. Es bleibt also eher bei einer sehr groben geografischen Einschätzung, was in manchen Fällen hilfreich sein kann. Wie dieses Beispiel, in dem durch eine DNA-basierte Herkunftsanalyse de zuerst angenommen Hypothese verworfen und die menschlichen Gebeine anders bestattet werden konnten:
https://genomebiology.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13059-021-02420-0
Was ist, wenn ich gar nichts über die menschlichen Überreste weiß, die ich gefunden habe? Keine Dokumente oder mündliche Erzählungen über eine mögliche Herkunft vorhanden sind? Ist es dann sinnvoll, ‘ins Blaue hinein' eine DNA-Analyse zu machen?
Die Antwort wäre hier eher nein. In einem solchen Fall ist oft nicht klar, ob die Person der Forschung und Lehre nach ihrem Tod zugestimmt hat. Man muss sich also fragen, ob die Verletzung der Überreste zur Probenentnahme hier gerechtfertigt wäre. Eine interdisziplinäre Gruppe aus Archäolog*innen, Anthropolog*innen, Kurator*innen und Genetiker*innen hat 5 Punkte erarbeitet, die bei der Untersuchung von DNA aus archäologischen menschlichen Überresten beachtet werden sollten (https://doi.org/10.1038/s41586-021-04008-x). Dabei wird deutlich, dass ohne einen konkreten Plan und die Beachtung nationaler Richtlinien keine DNA-Analysen durchgeführt werden sollten. Zudem sollte, wenn möglich, von Anfang an Kontakt zu anderen Stakeholdern hergestellt werden, um diese in Entscheidungsprozesse einzubinden.
Zudem ist es, im Gegensatz zu Szenario #2, nicht eindeutig, wie aussagekräftig das Ergebnis einer DNA-Datenbank oder Ancestery Tests wäre. Es ist nicht klar ist wie in Abwesenheit von jeglichen dokumentarischen Hinweisen und Kontexten ein DNA-basiertes Herkunftsergebnis zu deuten wäre. Im Beispiel des bestatteten Lehrskeletts einer Schule in Nordrheinwestp(https://www.spiegel.de/panorama/bildung/nrw-schueler-beerdigen-unbekanntes-schulskelett-a-eae4b31a-d462-4353-b4d1-74fb5b8ea5d1) wurde vor der Bestattung eine DNA-Probe entnommen um, “Informationen über das Alter und die ungefähre Herkunft der Unbekannten” zu erlangen. In diesem Fall gab es keine weiteren Belege über die Herkunft des Skeletts, außer dass es 1952 erworben wurde. Wenn der DNA-Test nun keine eindeutige Region ergibt, sondern nur gewisse Prozentsätze für viele verschiedene Regionen, dann ist das Ergebnis eher unhilfreich. Zudem ist nach einem solchen Test und der Bestimmung der biologischen Herkunft nicht gleichzeitig klar, welcher Religion oder Ethnie die Person angehört hat (Interdisziplinäre Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten, S. 40-41). Im Falle der Bestattung des Skeletts ist dann also auch nicht klar, ob die Person der Bestattungsform so zugestimmt hätte. Außer in sehr speziellen Fällen, wie dem oben erwähnten Paper über den Fund von 10 Skeletten im Vernichtungslager Sobibór.
Bei archäologischen Funden ist die Auswertung von DNA-Analysen noch komplexer. Es ist schwer zu sagen, wie die Bevölkerung in der damaligen Zeit ausgesehen hat und ob wir von den Menschen, die heute in einer Region leben, auf die Bevölkerung vor vielen tausend Jahren schließen können.
Stell dir vor du identifizierst dich als Deutsch und würdest einem deutschen Kulturkreis angehören - wenn nun ein 4000 Jahre altes Skelett gefunden wird, inwieweit würde eure DNA übereinstimmen und, abgesehen davon, wie lebten die Menschen vor 4000 Jahren in Deutschland? Glaubst du, dass ihr ähnliche kulturelle Vorstellungen habt?
In einem Paper, in dem ein Friedhof in Sachsen untersucht wurde. Die dortigen menschlichen Überreste gehörten zur Neolithic Linear Pottery Culture (Linearbandkeramische Kultur, LBK), welche von 5500-4900 v.Chr. existierte, einer Zeit in der der Übergang von “Jägern und Sammlern” zur Sesshaftigkeit erfolgte. Ziel des Paper war es die frühen LBK-Populationen durch genetische Analysen zu charakterisieren und den genetischen Ursprung dieser damaligen Kultur in Europa zu finden. Das Ergebnis der Untersuchungen zeigte, dass die archäologische DNA vor allem mit der DNA moderner Menschen in Anatolien und dem Nahen Osten übereinstimmte, dort also der Ursprung dieser Bevölkerungsgruppe gelegen haben muss: https://doi.org/10.1371/journal.pbio.1000536
Das Beispiel zeigt, dass der Fundort eines archäologischen Skeletts in Deutschland nicht automatisch bedeuten muss, dass es sich auch um einen Menschen handelt, der sich einem deutschen Kulturkreis zugehörig fühlte. Es heißt aber auch nicht, dass die Menschen in dieser Zeit als Türken bezeichnet werden können, da dieser moderner Begriff, der hier als Vergleich diente, 4000 Jahre v.Chr. noch gar nicht existierte. Es zeigt lediglich, dass die heutigen Bewohner Anatoliens noch viel ursprüngliche DNA der Menschen in sich tragen, die damals Europa besiedelten.