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Szenario #3 - Was ist, wenn ich wirklich gar nichts über die menschlichen Überreste weiß, die ich gefunden habe?

Was ist, wenn ich gar nichts über die menschlichen Überreste weiß, die ich gefunden habe? Keine Dokumente oder mündliche Erzählungen über eine mögliche Herkunft vorhanden sind? Ist es dann sinnvoll, ‘ins Blaue hinein' eine DNA-Analyse zu machen?

Die Antwort wäre hier eher nein. In einem solchen Fall ist oft nicht klar, ob die Person der Forschung und Lehre nach ihrem Tod zugestimmt hat. Man muss sich also fragen, ob die Verletzung der Überreste zur Probenentnahme hier gerechtfertigt wäre. Eine interdisziplinäre Gruppe aus Archäolog*innen, Anthropolog*innen, Kurator*innen und Genetiker*innen hat 5 Punkte erarbeitet, die bei der Untersuchung von DNA aus archäologischen menschlichen Überresten beachtet werden sollten (https://doi.org/10.1038/s41586-021-04008-x). Dabei wird deutlich, dass ohne einen konkreten Plan und die Beachtung nationaler Richtlinien keine DNA-Analysen durchgeführt werden sollten. Zudem sollte, wenn möglich, von Anfang an Kontakt zu anderen Stakeholdern hergestellt werden, um diese in Entscheidungsprozesse einzubinden.

Zudem ist es, im Gegensatz zu Szenario #2, nicht eindeutig, wie aussagekräftig das Ergebnis einer DNA-Datenbank oder Ancestery Tests wäre. Es ist  nicht klar ist wie in Abwesenheit von jeglichen dokumentarischen Hinweisen und Kontexten ein DNA-basiertes Herkunftsergebnis zu deuten wäre. Im Beispiel des bestatteten Lehrskeletts einer Schule in Nordrheinwestp(https://www.spiegel.de/panorama/bildung/nrw-schueler-beerdigen-unbekanntes-schulskelett-a-eae4b31a-d462-4353-b4d1-74fb5b8ea5d1) wurde vor der Bestattung eine DNA-Probe entnommen um, “Informationen über das Alter und die ungefähre Herkunft der Unbekannten” zu erlangen. In diesem Fall gab es keine weiteren Belege über die Herkunft des Skeletts, außer dass es 1952 erworben wurde. Wenn der DNA-Test nun keine eindeutige Region ergibt, sondern nur gewisse Prozentsätze für viele verschiedene Regionen, dann ist das Ergebnis eher unhilfreich. Zudem ist nach einem solchen Test und der Bestimmung der biologischen Herkunft nicht gleichzeitig klar, welcher Religion oder Ethnie die Person angehört hat  (Interdisziplinäre Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten, S. 40-41). Im Falle der Bestattung des Skeletts ist dann also auch nicht klar, ob die Person der Bestattungsform so zugestimmt hätte. Außer in sehr speziellen Fällen, wie dem oben erwähnten Paper über den Fund von 10 Skeletten im  Vernichtungslager Sobibór.

Bei archäologischen Funden ist die Auswertung von DNA-Analysen noch komplexer. Es ist schwer zu sagen, wie die Bevölkerung in der damaligen Zeit ausgesehen hat und ob wir von den Menschen, die heute in einer Region leben, auf die Bevölkerung vor vielen tausend Jahren schließen können.    

Stell dir vor du identifizierst dich als Deutsch und würdest einem deutschen Kulturkreis angehören - wenn nun ein 4000 Jahre altes Skelett gefunden wird, inwieweit würde eure DNA übereinstimmen und, abgesehen davon, wie lebten die Menschen vor 4000 Jahren in Deutschland? Glaubst du, dass ihr ähnliche kulturelle Vorstellungen habt?

In einem Paper, in dem ein Friedhof in Sachsen untersucht wurde. Die dortigen menschlichen Überreste gehörten zur Neolithic Linear Pottery Culture (Linearbandkeramische Kultur, LBK), welche von 5500-4900 v.Chr. existierte, einer Zeit in der der Übergang von “Jägern und Sammlern” zur Sesshaftigkeit erfolgte. Ziel des Paper war es die frühen LBK-Populationen durch genetische Analysen zu charakterisieren und den genetischen Ursprung dieser damaligen Kultur in Europa zu finden. Das Ergebnis der Untersuchungen zeigte, dass die archäologische DNA vor allem mit der DNA moderner Menschen in Anatolien und dem Nahen Osten übereinstimmte, dort also der Ursprung dieser Bevölkerungsgruppe gelegen haben muss: https://doi.org/10.1371/journal.pbio.1000536

Das Beispiel zeigt, dass der Fundort eines archäologischen Skeletts in Deutschland nicht automatisch bedeuten muss, dass es sich auch um einen Menschen handelt, der sich einem deutschen Kulturkreis zugehörig fühlte. Es heißt aber auch nicht, dass die Menschen in dieser Zeit als Türken bezeichnet werden können, da dieser moderner Begriff, der hier als Vergleich diente, 4000 Jahre v.Chr. noch gar nicht existierte. Es zeigt lediglich, dass die heutigen Bewohner Anatoliens noch viel ursprüngliche DNA der Menschen in sich tragen, die damals Europa besiedelten.