Hier einige Schritte der anthropologischen Untersuchung:
Die Untersuchung beginnt mit einer genauen Erfassung was eigentlich da ist - habe ich einzelnen Knochenteile oder andere Überreste gefunden, ganze Skelette, Schädel, Knochenschnitte etc.? Gibt es mehrere verschiedene Überreste und falls ja, bestehen Ähnlichkeiten zwischen ihnen? Bei Bedarf kann auch ein Anatomieatlas verwendet werden.
Die Begutachtung der schriftlichen Dokumente an oder auf den Überresten ist dabei streng genommen nicht einmal Teil der biologisch-naturwissenschaftlichen Analyse der Überreste, sondern kann auch zu der historischen Analyse gezählt werden, die in der interdisziplinären Provenienzforschung unverzichtbar ist. Ohne ausreichende historische Rekonstruierung können auch die anthropologischen Methoden wenig Aussagekraft haben. Dabei sind besonders die Informationen am wichtigsten, die den menschlichen Überresten sowohl räumlich als auch zeitlich am nächsten sind: eine Inschrift direkt auf einem Knochen kann aufschlussreicher sein als ein Eintrag in einer Sammlungschronik. Auch wenn mehrere unbekannte Überreste vorhanden sind, können Ähnlichkeiten in der Beschriftung oder dem Labeln wertvoll sein, um eine gemeinsame Herkunft der Subjekte zu begründen. Bei Beschriftungen oder Einträgen spielt eine gewisse Quellenkritik eine wichtige Rolle – wer könnte die Beschriftung vorgenommen haben und mit welcher Intention? Aus welcher Zeit könnten sie stammen (z.B. anhand spezieller Wortwahl oder geografischer Bezeichnungen) und welche Glaubenssätze und Vorurteile könnte der Verfasser gehabt haben?
Falls es sich um Knochen handelt, sind diese glatt und weiß gebleicht (meist medizinischer Kontext) oder dunkel verfärbt (was für Kontakt zur Umwelt oder Boden spricht)? Sind die Überreste anatomisch vollständig oder fehlen einzelne Teile?
Es sollte auch auf verschiedene Spuren geachtet werden, die auf die Behandlung der Überreste nach Aufnahme in die Sammlung, bzw. das Alter des Präparats hindeuten: Schnittspuren, Krater, Einritzungen, Bohrlöcher oder Gipsreste, mit denen Abdrücke hergestellt wurden. Auch die Materialien, die zur Verarbeitung oder Konservierung der menschlichen Überreste verwendet wurden, können relevant sein.
Es gibt für einen Laien deutliche Unterscheide zwischen Kinder- und Erwachsenenskeletten (z.B. Größe/Länge der Knochen). Auch ein Schädel welcher noch nicht zusammengewachsen ist, oder ein Kiefer mit kleinen Zähnen die in unterschiedlichen Stadien des Durchbrechens sind würden auffallen.
Expert*innen können an verschiedenen Knochenteilen genauere Einschätzungen treffen und das biologische Alter von menschlichen Überresten abschätzen. Es gibt am z.B. Becken sehr verlässliche Strukturen, wie die Schambeinsymphyse. Auch die Schädelnähte sind bekannte Strukturen welche sich mit dem Alter verändern. Ebenfalls kann der Zustand des Kiefers und der Zähne beurteilt werden. Bei Kindern gibt es eine festgelegte alterstypische Entwicklung des Gebisses welche analysiert werden kann. Je älter eine Person lebt, desto eher hat die Person schonmal Zähne verloren oder gezogen bekommen, wobei man häufig auch eine Heilung des Kiefers an der Stelle sieht. Bei archäologischen menschlichen Überresten kann es durch die Ernährungsweise (z.B. Sand oder Steine in der Nahrung) ebenfalls zu einer extrem starken Abnutzung der Zähne kommen. Allerdings spielen die Lebensumstände des Verstorbenen eine enorme Rolle im Alterungsprozess und machen die Abschätzung des Alters nur anhand der Knochen sehr ungenau.
Bei Kindern und Jugendlichen lässt sich das Alter bis auf wenige Jahre genau festlegen, da sich der Körper dynamischer im Wandel befindet. Bei Erwachsenen muss mit plus/minus 15-10 Jahren gerechnet werden. Dennoch können all diese Details dabei helfen, ein Profil über die Person und ihr vermutliches Leben zu erstellen.
Eine solche Einschätzung hängt davon ab welche Knochenteile vorliegen. Klassischerweise sind das Becken und der Schädel besonders aufschlussreich für eine Geschlechtsbestimmung, da dort sexuell dimorphe Unterschiede besonders deutlich sind (z.B. Beckenform angepasst an Geburt/Schwangerschaft). Auch sind insgesamt die Knochen von Männerns eher massiver und gröber als die von Frauen, abhängig von z.B. durchschnittlicher gesamter Muskelmasse. Expert:innen schauen sind an diesen und anderen Knochenteilen ganz bestimmte Stellen an und schätzen anhand von Skalas ein wie männlich oder weiblich dieses spezielle Merkmal ausgeprägt ist. Je mehr Knochen beurteilt werden können, desto genauer wird das Ergebnis.
Es ist durchaus möglich, dass einige Stellen klassisch "männlich" aussehen, währen andere klassisch "weiblich" aussehen. Die Ergebnisse solcher Messungen basierend auf stereotypischen Merkmalen, die Skelette von Männern und Frauen in bestimmten Altersgruppen aufweisen sollten. So bleibt es ohne die passenden historischen Dokumente bei Vermutungen, die wir anstellen können. Besonders das Geschlecht einer Person ist durch weitaus mehr bestimmt als nur den Knochenbau und lässt sich nicht einfach so festlegen. Zudem ist die Geschlechtsbestimmung auch abhängig von der Altersbestimmung, da sexualdimorphe Merkmale sich erst richtig deutlich während bzw. nach der Pubertät ausprägen und auswerten lassen.
Die Geschlechtsbestimmung ist also insgesamt für Laien schwer durchführbar, aber grundsätzlich könnte man sagen, dass männliche Knochen etwas massiver und gröber sind (Hinweis: ohne Vergleiche und Vorerfahrung ist es schwer einzuschätzen was eher massiv oder grazil ist) und dass Beckenknochen und Schädel sexuell dimorphe Eigenschaften haben welche besonders gut für Geschlechtsschätzung genutzt werden können.
Expert*innen können ebenfalls Spuren von Krankheiten und auch Verwundungen von Knochen ablesen. Einige bekannte Beispiele für Pathologien wären Arthrose und Gicht (ein Vitamin-D-Mangel welcher die Knochen beeinflusst), aber auch Knochenkrebs. Ebenso können Infektionen wie Syphillis zu Lebzeiten die Knochen befallen und sichtbare Spuren hinterlassen. Was Verwundungen angeht, so können zum Beispiel Traumata durch scharfe und stumpfe Fallen charakteristische Spuren hinterlassen.
Solche Hinweise können spannend sein, um näheres über die Person herauszufinden deren Gebeine man vor sich liegen hat. Jedoch sollten solche Analysen von Expert*innen vorgenommen werden. Zum Beispiel könnte ein Laie eine Beschädigung am Knochen als Arthrose einstufen, obwohl für einen geschulten Blick klar ist, dass es sich um eine Beschädigung des Knochens nach dem Tod handelt (z.B. bei der Ausgrabung oder dem Handhaben). Ebenso könnte ein Laie eine poröse Stelle am Knochen übersehen, die für ein geschultes Auge als Nährstoffmangel oder Infektionsanzeichen hervorsticht.
Diese Frage ist berechtigt, schließlich ist die Klärung der biogeografischen Herkunft ist eines der Ziele der Provenienzforschung (Leitfaden “Interdisziplinäre Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten”, S.12). Dabei ist allein der Begriff Herkunft schon ein diskussionswürdiges Thema. Als "biogeografisch" bezeichnet man die Region, aus der eine Person oder die Vorfahren der Person stammen (Leitfaden “Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlung", S.91). Im Englischen wird dafür allerdings eher der Begriff ancestry, also Abstammung benutzt. Damit wird auch ein familiärer Hintergrund eingeschlossen. Die Frage nach Herkunft eines Menschen ist also vielschichtig.
Für die Provenienzforschung, das Ausschließen oder Beweisen von Unrechtskontexten oder eine Repatriierung kann diese "biogeografische" Herkunft sehr entscheidend sein.Dabei ist immer zu beachten, dass die geografische Herkunft nicht eindeutige Rückschlüsse auf die ethnische Herkunft einer Person geben kann. Zudem kann die Überzeugung, Unterschiede zwischen Menschen anhand der Schädel oder Gebeine auszumachen, Hinweise auf wissenschaftlichen Rassismus liefern. Die meisten Erkenntnisse über Schädelformen lassen sich zudem kaum von dem Erbe rassistischer, kolonialer Experimente und Messungen trennen und sind mit hoher Wahrscheinlichkeit davon beeinflusst. Es bleibt die Frage, wie solide solche Ergebnisse überhaupt sind. Die meisten Erkenntnisse aus anthropologischen Messungen sind sehr vage und bieten, wenn überhaupt, eine eher grobe Orientierung.
In der Anthropologie wird vor allem kritisiert, dass die Ergebnisse der Datenbanken nur darauf basieren, was in ihnen eingespeist wurde und dadurch Gruppen, deren Daten nicht repräsentiert sind, auch mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit angezeigt werden. Beispielweise weist die bekannteste Datenbank FORDISC zahlreiche Mängel bei der Herkunftsbestimmung unbekannter menschlicher Gebeine auf und wird als eher ungeeignete Methode angesehen (M. Elliott and M. Collard, “Fordisc and the determination of ancestry from cranial measurements,” Biology Letters, 2009, S. 849–852).
Dennoch die Einschätzung der "biogeografischen" Herkunft einer Person anhand des Schädels akzeptiert, besonders auf die mittlere Schädelregion bezogen. Cunha und Ubelaker listen in ihrem Review jedoch auch auf, wie wichtig es ist, für die Bestimmung der Herkunft so viele Methoden wie möglich zu nutzen, um das Ergebnis zu verbessern. Bei der Verwendung von Datenbanken sollte angegeben werden, ob die Zielregion in der Datenbank überhaupt vertreten ist und wie vollständig die menschlichen Gebeine waren (E. Cunha, D. H. Ubelaker, Evaluation of Ancestry from Human Skeletal Remains: A Concise Review, Forensic Sciences Research,2020, S. 89–97)
Oft wird die Möglichkeit einer DNA-Analyse als geeignetere Methode angesehen, um die Herkunft oder sogar Identität einer unbekannten Person festzustellen. Allerdings werden auch dafür Datenbanken verwendet, die ähnliche Limitationen aufweisen, wie die anthropologischen Datenbanken. Mehr dazu findet ihr in dem Artikel über DNA-Analyse.