In der Zoologischen Sammlung am Institut für Biologie der Freien Universität befinden sich auch menschliche Gebeine. Seit 2021 wird in einem Provenienzforschungsprojekt die Herkunft und Geschichte dieser Schädel und Knochen kritisch aufgearbeitet. In einer Seminarreihe möchte Vanessa Hava Schulmann, Humanbiologin und Leiterin des Projekts, nun mit der Öffentlichkeit ins Gespräch kommen. Die Seminare finden auf Englisch statt und sind offen für alle, die sich für das Thema interessieren.
Die Zoologische Lehrsammlung am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin beherbergt größtenteils nicht-menschliche Präparate. Jedoch werden dort auch menschliche Gebeine (bzw. ancestral remains) aufbewahrt. Dies ist nicht überraschend, da die Humanbiologie ein essenzieller Teil der Biologielehre ist und seit Jahrzehnten an der Freien Universität unterrichtet wird.
Allerdings haben sich die ethischen Standards bezüglich des Erwerbs und der Verwendung von menschlichen Gebeinen für wissenschaftliche Zwecke im Laufe der Zeit geändert. Dies ist besonders in Berlin relevant, dessen wissenschaftliche Landschaft nicht unabhängig von Kolonialismus, Nationalsozialismus und den damit verbundenen Verbrechen im Namen der Wissenschaft gesehen werden kann.
Doch auch das Konzept der Körperspende sollte historisch nuanciert betrachtet werden. Heutzutage ist ein “informed consent” (informierte Einwilligung durch die spendende Person) Voraussetzung für die Verwendung von menschlichen Überresten in Forschung und Lehre.[1] [2]
[1] Winkelmann, A. (2016), Consent and consensus—ethical perspectives on obtaining bodies for anatomical dissection. Clin. Anat., 29: 70-77. https://doi.org/10.1002/ca.22651
[2] Winkelmann, Andreas et al.: Interdisziplinäre Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten: Eine methodische Arbeitshilfe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité und von ICOM Deutschland, Heidelberg: arthistoricum.net, 2022 (Beiträge zur Museologie, Band 11). https://doi.org/10.11588/arthistoricum.893
Die in der Zoologischen Lehrsammlung vorhandenen menschlichen Gebeine wurden in der Geschichte des Biologieinstitutes für die Lehre verwendet. Es entspricht unseren ethischen Werten und unserer wissenschaftlichen Verantwortung, die Präsenz und Herkunft von menschlichen Überresten in der Zoologischen Lehrsammlung zu hinterfragen.
Daher starteten wir, das Lehrpersonal der Humanbiologie, im November 2021 ein Provenienzforschungsprojekt. Provenienzforschung befasst sich mit der Herkunft (Provenienz) – in diesem Fall mit der Herkunft von menschlichen Gebeinen.
Im Zuge der fortlaufenden Arbeit konnten wir bereits einen kolonialen Kontext für zwei menschliche Gebeine bestätigen. Einblicke in Prozesse dieser Provenienzforschung, wichtige Erkenntnisse und Konsequenzen können weiter unten auf dieser Seite eingesehen werden.
Aktuell leitet Vanessa Hava Schulmann, ehemalige Masterstudentin am Institut und nun wissenschaftliche Mitarbeiterin, die Nachforschungen. Im Rahmen des zweijährigen Projektes sind ebenfalls begleitende Lehrformate zu relevanten bioethischen und historisch-gesellschaftlichen Themen vorgesehen.
Wir hoffen, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unseres Institutes anzustoßen, ihre Auswirkungen auf die Gegenwart zu reflektieren und auch in Zukunft einen kritischen Diskurs über Ethik und wissenschaftliche Verantwortung aufrechtzuerhalten.
Das Provenienzforschungsteam besteht aus:
Da Provenienzforschung einen interdisziplinären Ansatz erfordert, sind wir sehr dankbar dafür, dass uns externe Expert*innen unterstützt haben. Danken möchten wir besonders Prof. Dr. med. Andreas Winkelmann für seine Hilfe beim Ermitteln des kolonialen Kontexts der vorher erwähnten menschlichen Gebeine. Außerdem danken wir Dr. Stefanie Klamm, Koordinatorin der Universitätssammlungen der Freien Universität Berlin, die uns durch Ihre Kollaboration und Beratung unterstützt.
Kontakt: v.schulmann@fu-berlin.de
Dies hängt von der Methode der Quantifizierung und der verwendeten Kategorien ab. Im Provenienzforschungsprojekt fokussieren wir uns auf folgende menschliche Gebeine aus der Sammlung, die uns bekannt sind:
Die menschlichen Gebeine waren in der Zoologischen Lehrsammlung teils nach tiersystematischer Logik organisiert (also menschliche Schädel neben denen anderer Primaten), teils nach einer Logik der vergleichenden Anatomie (zum Beispiel Vergleich von Gebissen, Vorder- oder Hinterextremitäten). Nun werden die menschlichen Gebeine in einem separaten, abschließbaren Schrank aufbewahrt.
Die Humanbiologie ist ein essenzieller Teil der Biologielehre und wird seit Jahrzehnten an der Freien Universität Berlin unterrichtet. Im Verlauf der Geschichte der Zoologischen Lehrsammlung gab es unterschiedliche Gründe für die Beherbergung menschlicher Gebeine. Erste Erwähnungen von Leihgaben menschlicher Präparate datieren auf die Zeit kurz nach Gründung der Lehrsammlung im Jahr 1949. Mit der Einrichtung einer Professur für Humanbiologie an der Freien Universität Berlin wurden Menschen bzw. deren sterbliche Überreste zum Forschungsgegenstand. Die Mehrzahl der menschlichen Gebeine, die heute Bestandteil der Zoologischen Lehrsammlung sind, stammen von dieser ehemaligen AG Humanbiologie, die 2010 aufgelöst wurde. Präparator*innen des Instituts für Biologie fertigten Präparate speziell für die Lehre an. Weitere Objekte kamen als dokumentierte Leihgaben von anderen Instituten, etwa aus der ehemaligen Biologie der Technischen Universität Berlin, in die Zoologische Sammlung der Freien Universität Berlin.
Die ehemalige AG Humanbiologie und die aktuelle AG Humanbiologie verwendeten menschliche Gebeine auf unterschiedliche Weise. Sie wurden in der Lehre beispielsweise zu folgenden Fachgebieten verwendet:
Die Herkunft der meisten menschlichen Gebeine lässt sich nur bis zum vorherigen Eigentümer, also dem Institut, das sie an die heutige Zoologische Lehrsammlung übergeben hat, nachvollziehen. Darüber hinaus ist die Dokumentation der Herkunft außerordentlich lückenhaft. Einige menschliche Gebeine waren Schenkungen von Privatpersonen oder Zahnarztpraxen. In keinem dieser Fälle ist die Herkunft eindeutig genug, um klar das informierte Einverständnis der Spender*innen zu bestätigen. Für einige menschliche Gebeine ist keinerlei Dokumentation vorhanden.
Die Präsenz menschlicher Gebeine in der Zoologischen Lehrsammlung und deren Verwendung in der Lehre ist ein Erbe der Tradition zoologischer Lehre in unserem Haus, das erst in der letzten Zeit im Rahmen der aufkommenden kritischen Diskussionen zu diesem Thema in Frage gestellt wurde. Der Diskurs über menschliche Gebeine in der Forschung und Lehre wurde am Institut zwar gelegentlich geführt, aber Ressourcen und Kompetenzen für ein Provenienzforschungsprojekt standen nicht zur Verfügung.
Wie bereits beschrieben, haben historisch bedingt menschliche Gebeine eine wichtige Rolle in der Forschung und Lehre der Biologie an der Freien Universität Berlin gespielt (z.B. in der ehemaligen AG Humanbiologie) und waren somit in der Zoologischen Lehrsammlung vorhanden. Die heutige AG Humanbiologie unter Leitung von Prof. Dr. Katja Nowick nutzt für ihre Forschung bioinformatische und molekularbiologische Ansätze. Dabei wird mit menschlichen Stammzellen und Hirnproben gearbeitet, die im Rahmen eines „informed consent“ gespendet wurden. Allerdings ist die humanbiologische Lehre (AG Nowick, Dr. Lieven) weiterhin breit aufgestellt und beinhaltet auch Anatomie und ähnliche Fachgebiete.
Da das Hinterfragen von Provenienz nicht immer so akut präsent war wie heutzutage, wurde im Sinne der Lehre bisher entschieden, menschliche Gebeine zu verwenden. Zudem kann das Betrachten echter menschlicher Gebeine in der humanbiologischen Lehre einen zusätzlichen Lernzweck haben, weil ein Modell in bestimmten Fällen kein gleichwertiger Ersatz ist. Mit der Zeit wurde die Lehre jedoch so gestaltet, dass immer häufiger mit Modellen gearbeitet werden konnte.
Durch den Antritt der Professur durch Katja Nowick (Juli 2017) wurde die Humanbiologie an der Freien Universität Berlin nach langer Zeit wiederbesetzt und neu ausgerichtet. Dr. Vladimir Jovanović übernahm ab 2018 die Zuständigkeit für Lehrinhalte und -materialien des Humanbiologie-Praktikums. Anne Hartleib war als Tutorin in die Lehre involviert. Auf Anregung dieser beiden Personen wurde die Frage nach der Herkunft und der Verwendung der menschlichen Überreste in der Arbeitsgruppe erstmals thematisiert.
Dr. Alexander Lieven, seit 2016 Ansprechpartner für die gesamte Zoologische Sammlung, die auch mehrere Tausend Tierpräparate enthält, hat die Neuorganisation der humananatomischen Präparate für die Arbeitsgruppe Nowick unterstützt und die Sammlung ebenso wie ihre Dokumentation für Fragen nach der Provenienz zugänglich gemacht.
Dr. Vladimir Bajić kam 2020 als PostDoc mit dem Fachgebiet humane Populationsgenetik in die Arbeitsgruppe und bereicherte die Diskussion mit seinem Fachwissen über ethische Fragen in Bezug auf historische Unrechtskontexte. Aufgrund moralischer Bedenken verzichtete er darauf, menschliche Überreste in der Lehre zu verwenden.
Die Masterstudentin Vanessa Hava Schulmann stieß im Herbst 2021 als Tutorin für Humanbiologie zur Arbeitsgruppe hinzu. Sie erklärte sich bereit, ehrenamtlich zur Herkunft der menschlichen Gebeine in der Zoologischen Sammlung zu recherchieren und sich im Bereich Provenienzforschung und Anthropologie selbstständig weiterzubilden, weil dieses Fachwissen am Institut nicht in ausreichendem Maße vorhanden war. Seit 2023 betreut sie das Projekt als wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Einige in der Zoologischen Lehrsammlung vorhandenen menschliche Gebeine gaben aufgrund von Erosionserscheinungen und ihres vermuteten Alters Anlass, einen Unrechtskontext zu vermuten. Berliner Universitäten und Forschungseinrichtungen haben eine eng mit dem Nationalsozialismus und Kolonialismus verknüpfte Geschichte, weshalb derartige Hintergründe nicht ausgeschlossen werden konnten. Daher haben wir den Provenienzforscher und Anatomieprofessor Andreas Winkelmann eingeladen, die Zoologische Lehrsammlung zu begutachten. Er erkannte auf zwei menschlichen Gebeinen Markierungen bzw. Nummerierungen, die charakteristisch für die S-Sammlung sind. Durch weitere Nachforschungen konnte der Verdacht bestätigt werden.
Entscheidend ist die Archivarbeit, um dem „Papierweg“ zu folgen. Zudem können mit Mitteln der physischen Anthropologie anhand der menschlichen Gebeine selbst wertvolle Hinweise aufgedeckt werden. In bestimmten Fällen kann es notwendig sein, invasive Methoden anzuwenden; dies ist jedoch im Rahmen unseres Provenienzforschungsprojektes nicht vorgesehen. Grund dafür ist, dass die potenziellen Erkenntnisse aus invasiven Methoden (bisher) nicht die Schäden an den menschlichen Überresten rechtfertigen würden. Zudem ist unklar, welche ethische entscheidende Instanz berechtigt wäre, invasive Methoden zu bewilligen und als notwendig einzustufen. Nicht nur Ethik-Komitees, sondern vor allem betroffene Interessengruppen (Stakeholders) sollten in zentraler Rolle an dieser Entscheidung mitwirken, sind jedoch in entsprechenden Gremien selten vertreten. In der Provenienzforschung werden daher daher bevorzugt nicht-invasive Methoden verwendet, die – im Gegensatz zu invasiver DNA-Entnahme und Isotopenanalyse – keinen Schaden an den menschlichen Gebeinen erzeugen.
Diese werden wohl weiterhin in der Zoologischen Lehrsammlung aufbewahrt werden. Einige Meinungen raten zu einer Bestattung, aber da dies zukünftige Provenienzforschung erschweren würde, ist dies bisher keine Option. Jeder vernichtete Knochen ist eine Chance weniger, Überreste eines vermissten Ahnen zu finden. Sofern Unrechtskontexte vorliegen, entspricht eine Bestattung nicht unbedingt den Interessen betroffener Gruppen. Im Falle einer Bestattung würde sich außerdem die Frage stellen, welche Art der Bestattung angemessen wäre. Solche Fragen sollten auch gemeinsam am Institut für Biologie zwischen der Studierendenschaft und den Beschäftigten diskutiert werden.
Die Provenienzen der in der Zoologischen Lehrsammlung vorhandenen menschlichen Gebeine sollen so weit wie möglich geklärt werden. Es ist ebenfalls geplant, mit den Studierenden und Mitarbeiter*innen der Biologie herauszuarbeiten, wie mit den menschlichen Gebeinen umgegangen werden soll, was sie sich für die Lehre wünschen und inwiefern mehr kritischer Diskurs zu solchen Themen stattfinden soll. Lehrnhalte zu menschlichen Gebeinen, Bioethik, wissenschaftlichem Rassismus und ähnlichen Themen soll nachhaltig in die Biologielehre verankert werden. Um die Umsetzung kümmert sich Vanessa Hava Schulmann.
Bereits vor Beginn des Provenienzforschungsprojektes wurden diese Themen in der Lehre angesprochen. Anne Hartleib thematisierte als Tutorin in jedem der von ihr betreuten Kurse der Humanbiologie den Umgang mit menschlichen Gebeinen. Dr. Vladimir Bajić thematisierte im Rahmen des Moduls Humanevolution wissenschaftlichen Rassismus, der nicht von Kolonialismus, Eugenik und deren Konsequenzen für die heutige Forschung zu trennen ist. Wissenschaftlicher Rassismus ist ebenfalls Thema im Seminar „Fachwissenschaftliche Vertiefung Biologie (Evolution)“ für Lehramtsstudierende im Masterstudiengang.
Derzeit wird in jedem Kurs, in dem die Verwendung von menschlichen Überresten naheliegend gewesen wäre – beispielsweise in der Humanbiologielehre zum Thema Knochen – darüber gesprochen, warum die menschlichen Gebeine nicht verwendet werden. In Ausnahmefällen wo die Provenienz eine Verwendung in der Lehre zulässt wird das natürlich transparent und kritisch addressiert. Vanessa Hava Schulmann steht als Ansprechperson und Gastsprecherin für Diskussionsrunden in Kursen zur Verfügung. Solche interaktiven Seminare zu menschlichen Überresten in Lehre und Forschung wurden bereits für Studierende im Biologie-Master und Lehramtsstudierende im Biologie-Bachelor angeboten.
Des Weiteren sollen Gastvorträge, offene Diskussionsrunden zu relevanten Thematiken, und ähnliche Veranstaltungen am Institut kritischen Diskurs aufrechterhalten und fördern.
Vanessa Hava Schulmann führt die Provenienzforschung durch. Dr. Vladimir Bajić gab den Anstoß und betreute ehemals die Forschung. Prof. Katja Nowick, Dr. Vladimir Jovanović, Dr. Alexander Lieven und Anne Hartleib begleiten ebenfalls die Aktivitäten.
Ansprechperson für Fragen zum Provenienzforschungsprojekt ist Vanessa Hava Schulmann, da sie die Recherchen und die Projektorganisation übernommen hat. Antworten spricht sie mit dem Team ab. Generelle Aussagen und Meinungen des Lehrpersonals formuliert das Team gemeinsam. Bei Fragen, die das gesamte Institut für Biologie betreffen, werden weitere Personen, etwa die geschäftsführende Direktorin des Instituts bzw. ihre Stellvertretung, einbezogen.
Der Präsident der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Günter M. Ziegler, ist über das Projekt informiert. Die Geschäftsführung des Instituts für Biologie unterstützt das Projekt. Die Stabsstelle Kommunikation und Marketing der Freien Universität Berlin unterstützt die Kommunikation für das Projekt. Dr. Stefanie Klamm, Koordinatorin der Universitätssammlungen bei der Universitätsbibliothek der Freien Universität, unterstützt uns ebenfalls durch Kollaboration und Beratung. Die Studierendenschaft ist vertreten durch die studentischen Vertreter*innen des Institutsrats Biologie - ebenfalls ist die Fachschaftsinitiative Biologie involviert.
Prof. Andreas Winkelmann stand dem Projektteam als externer wissenschaftlicher Berater zur Verfügung, ebenso wie Expert*innen für physische Anthropologie.
Es besteht auch Kontakt zu Isabelle Reimann und Mnyaka Sururu Mboro, die im Auftrag von Decolonize Berlin e.V. einen Report über menschliche Gebeine aus kolonialen Kontexten in wissenschaftlichen Sammlungen Berlins verfasst haben (siehe: „We want them back“; Februar 2022). Die Zoologische Lehrsammlung wurde im Frühjahr 2021 für den Report begutachtet. Zudem lud Decolonize Berlin e.V. Vanessa Hava Schulmann zu einem Fachtag ein, der eine thematische Weiterbildung und Vernetzung mit Vertreter*innen relevanter Institute ermöglichte.