3) Wie sieht es jetzt aus? Alles aufgearbeitet und vergessen?
“Aus der Geschichte lernen” ist ein Satz, der sich in unseren aktuellen Zeiten immer öfter findet, meist als Vorwurf oder ratlose Frage formuliert - “warum lernen wir denn nicht aus der Geschichte?!”
Als zukünftige Biologie- und Geschichtslehrerin beschäftigt mich diese Frage erstaunlich oft und nun noch mehr, nachdem ich so viel über die Ursprünge des wissenschaftlichen Rassismus und der Eugenik gelesen habe. Eine mögliche Antwort auf die Frage wäre, dass nur allein die Geschichte keine besonders gute Lehrmeisterin ist. Nur zu wissen, was passiert ist, erklärt noch lange kein wie und warum und, auch wenn es sich oft so anfühlt, kann sich Geschichte niemals einfach wiederholen.
Es ist eher folgendes Problem: die nationalsozialistischen Verbrechen sind bei weitem nicht so gut aufgearbeitet, wie wir es gerne hätten. 2024 wurde der "Erinnerungsort Ihnestraße" in den Gebäuden des Kaiser- Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik eröffnet. Der Fund menschlicher Gebeine bei Bauarbeiten 2014, 15 und 16 auf dem Gelände machte die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit und eine Zusammenarbeit mit Verbänden der Opfer unausweichlich - und zeigte, dass die Gedenktafel, die in de 80er Jahren angebracht wurde als Aufarbeitung nicht ausreichte (18). Dennoch stellt sich Frage warum es so lange gedauert hat, sich mehr mit den Verbrechen von Wissenschaftler*innen auseinander zu setzen, die oft nach dem Ende des 2. Weltkriegs einfach weiter lehren und forschen durften?
Die Art und Weise, wie Menschen im 18. Jahrhundert gesehen wurden, war verantwortlich für das Entstehen eines wissenschaftlichen Rassismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts zur Eugenik führte und den Nazis die Grundlage lieferte, Millionen von Menschen zu töten. Wir haben das als Gesellschaft nicht einfach abgeschüttelt, sondern führen es in kulturellem Rassismus und strukturellem Rassismus weiter. Auch wenn man heute wissenschaftlich gesehen weiß, dass alle Menschen gleich sind, erlauben sich weiße Europäer*innen an ihren Grenzen dennoch zu urteilen, wer ein Recht auf ein würdevolles Leben hat - und wer nicht.
Und auch wenn ich es eigentlich nicht glauben möchte, sind eugenische Denkweisen mehr als weit verbreitet. Als ich von der Arbeit an diesem Text erzählte und die Einstellung von Eugenikern gegenüber armen Menschen wiedergab, bekam ich zu hören: “Ja ist doch so, dass die mehr Kinder kriegen! Die haben den ganzen Tag nichts anderes zu tun und kriegen so viel Geld hinterher geworfen.”
Bis 2011 waren Transpersonen in Deutschland verpflichtet, sich bei einer Änderung des Geschlechtseintrags durch das Transsexuellengesetz einer geschlechtsangleichenden OP und Zwangssterilisation zu unterziehen (19). Immer mehr Menschen nutzen pränatale Diagnostik, um herauszufinden, ob ihr Neugeborenes eine Behinderung haben könnte (16). Seit 2022 wird die nicht-inavsve Pränataltestests auf Trisomie 13,18 und 21 von der Krankenkasse übernommen, seit 2012 sind sie für Selbstzahler möglich. Eine eingehende Beratung und strenge Indikation sind in Richtlinien zwar festgehalten, dennoch kritisieren Verände und Politiker*innen die Entscheidung. Die Verfügbarkeit der Tests könnte Schwangere dazu verleiten, die Diagnostik überhaupt erst druchzuführen und durch die (häufig falsch positiven) Ergebnisse der Tests verunsichert zu werden. Es steht die Frage im Raum, ob man das Leben eines Kindes mit Trisomie als weniger lebenswert empfindet und daher bereits vor der Geburt selektiert wird - etwas dem Menschen mit Trisomien vehement wiedersprechen würden.
Als Biolog*innen ist es unsere Pflicht, diese Themen und die Ursprünge des wissenschaftlichen Rassismus im Hinterkopf zu behalten und zu hinterfragen, wo die Konzepte, die wir anwenden, eigentlich herkommen. Ordnungssysteme und Kategorien dienen immer dem Ausdruck von Macht. Diese Machtverhältnisse bestehen nach wie vor und werden auch an unseren Universitäten reproduziert.
„Es ist gerade die Unschärfe des ‚Rasse‘-Konzepts, die seinen Erfolg erklärt: ‚Rasse‘ wurde ständig anders und nie genau definiert, Wissenschaftler*innen waren aber überzeugt, dass es sie gäbe. Sie waren deshalb ohne Unterlass damit beschäftigt, diese Idee zu behaupten und zu schärfen.“ - Christine Hanke, Medienwissenschaftlerin (20)