2) …bis zur Anwendung: Scientific Racism und Eugenik
Der Begriff Eugenik stammt von den griechischen Worten eu (gut) und genos (Familie, Vererbung) und beschreibt die populäre Auffassung des 20. Jahrhunderts, Vererbungs- und Selektionsregeln uneingeschränkt auf Menschen anwenden zu können und so die Leistung und Qualität der Gesellschaft zu beeinflussen. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Rassismus, der wie aufgezeigt ein sehr komplexer Begriff mit vielen Ursprüngen ist, lässt sich die Eugenik auf einen Mann zurückführen: den britischen Forscher Francis Galton (12, 13). Galton war der jüngere Cousin von niemand geringerem als Charles Darwin und lebte von 1822 bis 1911 (12, 13). Zeit seines Lebens war Galton naturwissenschaftlich interessiert, studierte an Elite-Universitäten und konnte sich dank seiner reichen Familie ein Leben als “Vollzeit-Wissenschaftler” erlauben - etwas, was im 19. Jahrhundert durchaus selten war (13).
Galton interessierte sich für viele verschiedene Forschungsbereich, aber nach der Lektüre von “Origin of the species” war er fasziniert von der Idee, die Theorie seines Cousins auch auf Menschen anzuwenden und prägte so bereits 1883 den Begriff Eugenik (12). Im Grunde genommen wollte Galton beweisen, dass ausschließlich die Natur und Vererbung den Charakter eines Menschen formen - nicht etwa die Erziehung oder das Umfeld, in dem ein Mensch aufwächst (13). Die Schlussfolgerung wäre also, einfach gesagt, dass kluge, reiche und schlaue Menschen auch kluge, reiche und schlaue Kinder bekommen - und arme, dumme Menschen auch immer nur arme und dumme Kinder haben werden. Galton hatte die Idee, dass eugenische Register geführt werden sollten, in denen alle Menschen in von ihm erdachte Kategorien eingeteilt werden, um bei Eheschließungen oder Einstellungen darauf zurückgreifen zu können (12). Insbesondere dieser Idee stimmte Darwin nicht zu und hinterfragte die Praktikabilität ganze Familien so einzuteilen (12). Dennoch war Darwin von der grundsätzlichen Arbeit Galtons überzeugt und sah Möglichkeit seine Evolutionstheorie auf Menschen anzuwenden als umsetzbar an, insbesondere stand er Armut und sozialen Hilfen vom Staat sehr kritisch gegenüber (12).
Galtons Ideen trafen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf enorm fruchtbaren Boden: Es war fester Bestandteil des wissenschaftlichen Verständnisses, dass negative Eigenschaften, wie Süchte oder Gewaltbereitschaft, von den Eltern an die Kinder vererbt werden können. In Galtons viktorianischen England gingen Sexualwissenschaftler zum Beispiel davon aus, dass der Drang zur Vergewaltigung in der Ehe vererbbar sei und demnach auch Söhne, die so gezeugt wurden, später zu Vergewaltigungen neigen können (14, S. 424). So wurde Gewalt in der Ehe eher aus einer Sorge für die nächste Generation heraus verurteilt, als aus dem Wunsch, Frauen zu schützen. Auch in der Weimarer Republik, wo wichtige Grundsteine für die Geburtenkontrolle gelegt wurden, und Kliniken eröffneten, in denen Frauen sich die zu jener Zeit noch illegalen Verhütungsmittel holen konnten, spielte die Eugenik die entscheidende Motivation zu einer größeren Kontrolle der Geburten. Insbesondere (Zwangs-)Sterilisation war eine bevorzugte Methode:
„In that context, many committed sex reformers and birth controllers came to see sterilization as a positive social good and a cost-efficient method of reducing expensive "social ballast." (15, S. 71).
Erschreckend ist auch, dass die politische Ausrichtung der Menschen keine Rolle spielte, denn der Glauben an eugenische und sozialdarwinistische Grundsätze war parteiübergreifend:
„It is striking that so few [...], even the most militant socialists, Communists, and feminists among them, chose to foreground that political argument [Sterlisation]. The drive toward medicalization, toward a taxonomy of "normal" and "abnormal," "healthy" and "unhealthy," "fit" and "unfit," blocked any serious left-wing critique of sterilization.“ (15, S. 74).
Die Angst davor, dass es dem Staat nicht möglich sein würde sowohl arme und kranke Menschen zu versorgen, als auch gesellschaftlichen Fortschritt zu erleben traf auf die generelle Akzeptanz von Darwins Evolutionstheorie in allen wissenschaftlichen Kreisen und macht Galtons Eugenik nahezu unantastbar (13, S.98). Natürlich dauerte es nicht lange, bis das auch mit wissenschaftlichem Rassismus verbunden wurde: Psychologen im viktorianischen England glaubten, dass der Drang zu vergewaltigen bei gewissen “Rassen” einfach vorhanden sei und vererbt werden könnte (14, S. 425). Aus heutiger Sicht ist es alarmierend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Eugenik alle Gesellschaftsschichten durchdrang und quasi ohne Gegenargumente als Grundlage für alle Reformen im Bereich der Gesundheit und Sexualität diente.
Trotzdem gab es auch in den 1920er Jahren schon Gegenstimmen, wie von Gilbert Keith Chesterton, der in seinem Buch “Eugenics and Other Evils” sowohl die pseudowissenschaftlichen Argumente zerlegte, als auch die offensichtlichen politischen Interessen der Bewegung analysierte und zu dem Schluss kam, dass es aus einer kapitalistischen Sicht natürlich einfacher ist Arbeiter*innen sterilisieren zu lassen, als die Löhne anzuheben(16). Leider war er einer der wenigen, die sich wirklich gegen die Eugenik stellte und so wurde immer mehr davon in die Praxis umgesetzt.
Die Vorstellung, die Menschheit optimieren und nach Belieben in Kategorien einordnen zu können, hatte im 20. Jahrhundert sehr grausame und konkrete Folgen. Sterilisationsgesetze in den USA oder Gesetze wie der Mental Deficiency Act 1913 in Großbritannien beraubten neurologisch erkrankten oder kriminellen Menschen jeglicher Autonomie (12, 17). In Deutschland wurden schließlich die moralischen Einschränkungen vollends ausgehebelt und all diejenigen, die nicht in das vorgefertigte Weltbild passten - Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Rom*ja, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung, politische Gegner*innen, Kriegsgefangene und mehr - wurden Opfer von Forschung, Folter und Misshandlung. Die Nazis ermordeten unter dem Deckmantel der Eugenik und des wissenschaftlichen Rassismus mehr als 6 Millionen Menschen und führten an 200.000 Frauen Zwangssterilisationen durch und (12).