4) Hans Nachtsheim - einfach "nur" ein Wissenschaftler am KWI-A?
Forschende spekulieren über wie die Natur funktioniert, und versuchen ihre Fragen theoretisch und experimentell zu beantworten. Hans Nachtsheim (13.06.1890 in Koblenz - 24.11.1979 in Boppard), zum Beispiel, erforschte Erbkrankheiten in Säugetieren - darunter besonders epileptische Anfälle bei Kaninchen [1]. Die Theorie war, dass die Neigung zu epileptischen Anfällen ein Gradient ist, mit nicht-epileptischen und epileptischen Kaninchen an den jeweiligen Enden des Spektrums. Er experimentierte mit chemischen Auslösern, beobachtete welche Kaninchen wie anfällig sind, und versuchte von der Anwendbarkeit seiner Erkenntnisse für die Epilepsie beim Menschen zu überzeugen. Dies, bis er die perfide Möglichkeit bekam, seine Theorien am Menschen selbst zu testen.
Menschen mit Epilepsie wurden mit dem Aufschwung der Eugenik im 20. Jahrhundert als “genetisch krank” und somit “unerwünscht” für den Genpool der Gesellschaft angesehen [2]. 1941 wurde Nachtsheim Forscher am Berliner Kaiser-Wilhem-Institut für Anthropologie, Erblehre und Eugenik (KWI-A, 1927-1945) - ein Institut, welches ein Kontinuum der deutscher Rassenlehre zwischen der Kolonialzeit und der Zeit des Nationalsozialismus darstellte [1-3]. Es befand sich in Dahlem, wo heutzutage das FU Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft befindlich ist (Ihnestraße 22) und im Jahr 2015 menschliche Gebeine auf dem Gelände gefunden wurden [4]. Nachtsheim wurde damals damit beauftragt, den Effekt von Unterdruck und Sauerstoffmangel auf epileptische und nicht-epileptische Kaninchen zu erforschen. Das Projekt wurde von der Luftfahrtsmedizin in Auftrag gegeben, da Unterdruck und Sauerstoffmangel auch Höhenkrankheit und epileptische Anfälle bei Kampfpiloten auslösen kann [1]. Piloten mit geringerer Anfälligkeit waren bevorzugt. Hier ergab sich eine Überschneidung mit Nachtsheims Epilepsieforschung, denn auch Sauerstoffmangel war als Auslöser für epileptische Anfälle bekannt. Nachtsheim begann zu forschen. Als sich ihm die Möglichkeit bot, mit dem Arzt Hans Heinze zusammenzuarbeiten, erhielt er Zugang zu sechs epilepsiekranken Kindern, die in Henzes Heil- und Pflegeanstalt betreut wurden - einem Institut, das eine eugenische Kampagne zur „Euthanasie“ von Menschen durchführte, die als behindert galten [1-2]. Anstelle der Kaninchen führte er das Unterdruck-Experiment an diesen sechs Kindern durch [1-2]. Ob er es aus eugenischen Motiven getan hat, ist nicht ganz klar, den Quellen zufolge hat er sich damals nicht offen dazu geäußert [1;5].
Nachtsheim wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Zuge der Nürnberger Prozesse nicht bestraft, da er nie Mitglied der NSDAP gewesen war [1; 5-6]. Auch konnte ihm nicht nachgewiesen werden, dass er während seiner Tätigkeit am KWI-A ein ausgesprochener Eugeniker war. Er wäre nur “mittelbar” an Menschenexperimenten beteiligt gewesen - während zum Beispiel seine Mitarbeiterin Karin Magnussen sehr unmittelbar an menschlichem Gewebe von Opfern des Konzentrationslager Auschwitz geforscht hatte [1]. Nachtsheims Abteilung des KWI-A wurde aufgelöst, jedoch erhielt er im Wesentlichen seine alte Position zurück und wurde Leiter eines eigenen Instituts für „Erbbiologie“ als Teil verschiedener Einrichtungen. Im Jahr 1949 wurde er Professor an der neu gegründeten Freien Universität zu Berlin, wo er die Abteilung für Genetik mitbegründete [1]. Laut den Quellen setzte er sich bis in die 1960er Jahre aktiv dafür ein, dass Personen mit „geschädigtem Erbgut“ eine Sterilisation in Betracht ziehen sollten. Er unterstellte dem Staat und der Gesellschaft die Verantwortung, eine „erfolgreiche Erbhygiene“ bei seinen Bürgern zu ermöglichen [6].
Literatur:
[1]
von Schwerin, Alexander. (2004). Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie, 1920-1945.
[2] Hans Heinze & Hans Nachtsheim
Schmuhl H-W. Hirnforschng und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 - 1945. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 2002;50(4):559-609.
[3]
Weiss, S.F. Human Genetics and Politics as Mutually Beneficial Resources: The Case of the Kaiser Wilhelm Institute for Anthropology, Human Heredity and Eugenics During the Third Reich. J Hist Biol 39, 41–88 (2006). https://doi.org/10.1007/s10739-005-6532-7
[4]
Erinnerungsort Ihnestraße, https://erinnerungsort-ihnestrasse.de/de/
[5]
Deichmann, U. (1999). Hans Nachtsheim, A Human Geneticist Under National Socialism, and the Question of Freedom of Science. In: Fortun, M., Mendelsohn, E. (eds) The Practices of Human Genetics. Sociology of the Sciences, vol 21. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-011-4718-7_6
[6]
von Schwerin, Alexander. (2000). Vom "Willen im Volke zur Eugenik". Der Humangenetiker Hans Nachtsheim und die Debatte um eine Sterilisierungsgesetz in der Bundesrepublik (1950-63). WechselWirkung. 21. 76-85.