Sind die Fliegen alle tot?
von Alexander Lieven
Das Modul „Insekten schaffen Wissen“ schlägt eine Brücke zwischen universitärer Forschung, der Lehramtsausbildung und dem naturwissenschaftlichen Unterricht an der Grundschule. Aus den Drittmitteln einer Forschergruppe, in der an Insekten geforscht wird, finanziert sich die Organisation der Begegnung von Schulklassen mit Lehramtsstudierenden, die Grundschulkindern das Forschen mit Insekten beibringen. Die Studierenden lernen, wie man die Kinder selbst etwas erforschen lässt, anstatt es ihnen auf herkömmliche Art beizubringen. Dabei bestimmen die Kinder durch ihre Forschungsfragen selbst, was sie erforschen wollen und was den beteiligten Feuerwanzen, Ameisen oder Blattläusen dabei zugemutet werden darf und was nicht. In ihren „Forschungsanträgen“ füllen sie die Rubrik „Wie wir die Insekten behandeln wollen“ aus. Dabei besteht kindlicher Konsens darin, dass die Tiere gut zu behandeln und nach dem Einsatz in Experimenten freizulassen sind. Am Ende werden die Forschungsergebnisse auf einer Tagung an der Universität vorgestellt. Zum Rahmenprogramm dieser Tagung gehören auch Vorträge von Forscherinnen aus der beteiligten Forschergruppe.
Bei der Vorbesprechung zu einem dieser Vorträge bemerkte ich, dass in der Präsentation der Forscherin ein Bild mit toten Fruchtfliegen zu sehen war. Es ging um eine Art Schorfbildung, mit der Fliegen auf Verletzungen reagieren. An den Tieren konnte man die schwarz gefärbten Stellen von Verletzungen gut sehen. Die Häufigkeit solcher Verletzungen wurden an Fliegen gezählt, die in „freier Wildbahn“ gefangen und anschließend in Alkohol getötet worden waren. Ich fragte die Forscherin: „Was sagst du den Kindern, wenn sie fragen, ob die Fliegen auf dem Bild alle tot sind?“
Kinder, die für naturwissenschaftliches Forschen begeistert werden sollen, Studierende, die naturwissenschaftliches Forschen an Insekten beibringen, Forschende, die naturwissenschaftlich forschen und dafür Fliegen töten. In dieser Zusammenfassung bildet sich die Kette ab, mit der wir uns in der Ausbildung im Fach Biologie konfrontiert sehen: Mensch – Natur – Forschen – Töten. Und die Kinder, die dabei im Spiel sind, lassen uns auf einmal spüren, dass die Praxis, für die sie begeistert werden sollen, völlig selbstverständlich das Töten derjenigen einfordern kann, die sie in ihren eigenen Forschungsprojekten per Beschluss gut behandeln wollen, die sie vielleicht sogar ins Herz geschlossen haben.
Wir haben alle in der Schule gelernt, dass man Tiere nicht quälen und seine Mitmenschen achten und gut behandeln soll. Wir sind besorgt durch Ökokrise und Artensterben und haben uns deswegen vielleicht sogar für das Studienfach Biologie entschieden, um als Wissenschaftler*innen etwas zum Bremsen dieser unser Überleben bedrohenden Prozesse beizutragen. Wie geht es uns dabei, wenn wir dann im Studium ein totes Tier aufschneiden sollen? Wurde es extra für diese Lehrveranstaltung getötet und wenn nicht, wofür dann? Können uns die Dozierenden sagen, von wem die Skelette, tierische sowie menschliche, stammen, die sie uns in ihren Lehrveranstaltungen zeigen? Lernen wir die Welt zu retten, indem uns gezeigt wird, wie man am effektivsten eine große Zahl von Insekten in Totfallen fängt, um die Lebensgemeinschaft eines Stücks Wiese zu analysieren oder indem wir einer lebenden Schabe ein Bein abschneiden, um davon das Aktionspotential abzuleiten, das entsteht, wenn man an einer Borste kitzelt?
Es könnte einen das Gefühl beschleichen, dass einige der wissenschaftlichen Praktiken eher Teil eines übergeordneten Problems sind, nämlich des merkwürdigen Verhältnisses, das wir zu dem haben, was wir Natur nennen. Denn wir haben vielleicht gehofft, dass die Wahl unseres Studienfachs uns dem näher bringen könnte, von dem wir uns entfremdet fühlen, dem wonach wir uns sehnen, einer Natürlichkeit, die wir der zerstörerischen Wirklichkeit unserer Kultur gegenüberstellen können. Und nun empfinden wir uns eventuell selbst als zerstörerisch oder als eingebunden in zerstörerische Praktiken. Wie reagieren wir darauf? Lassen wir uns dazu überreden, zu glauben, dass wir der Natur durch diese Praktiken doch näherkommen, die Entfremdung überwinden, indem wir ihr auf den Grund gehen? Hoffen wir auf Module, in denen ethische Themen zur Sprache kommen werden, ohne dass dies an ihren Titeln abzulesen wäre? Wechseln wir das Studienfach?
Vielleicht wünschen wir uns einen Ort, an dem es um ethische Fragen geht. Diese Toolbox soll solch ein Ort sein. Sie soll vor allem einen Überblick darüber geben, wer wo an unserem Institut sich mit welchen Fragen beschäftigt. Sie wird von Studierenden und Dozierenden unseres Fachbereichs bespielt und bietet Beiträge aus der Praxis, die zum Nachdenken anregen und zur Diskussion einladen. Es werden keine auch nur annähernd den wissenschaftlichen Diskursen standhaltende Essays oder Aufsätze sein. Dass man, um sich ernsthaft mit ethischen Themen befassen zu dürfen, sich erst einmal für entsprechende Studienfächer einschreiben müsste, hilft uns nicht weiter, da wir ja innerhalb unseres Instituts Positionen dazu finden wollen. Wobei natürlich jede Hilfe von außen willkommen ist.