Ein Platz zum Spielen
von Alexander Lieven
Eine Wiese mit Blumen, ein Teich mit einer Ente, über beidem ein Himmel mit Wolken, Regentropfen, Sonne und Regenbogen. Unter welchem Oberbegriff könnte man die auf dieser Kinderzeichnung dargestellten Objekte zusammenfassen? Die Antwort erschließt sich aus dem, was auf dem Bild nicht zu sehen ist. Menschen (zum Beispiel Kinder), Häuser, Autos, Spielzeug usw.
Wenn man Kindergartenkindern aus dem städtischen Umfeld eines Industrielands sagt, „malt ein Bild, auf dem man die Natur sieht“, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Ergebnisse ähnlich aussehen, wie das Bild oben. Nach einer 2017 veröffentlichten Untersuchung der taiwanesischen Bildungsforscherin Amy Dai, die Kindergartenkinder in Taipeh zu ihren Natur-Zeichnungen befragt hat, ist die Natur für sie ein Ort, an dem menschliche Artefakte wie Häuser oder Autos weitgehend fehlen. Dieser Ort entsteht vor allem durch das überproportionale Vorhandensein von Pflanzen. In der „Natur“ gibt es ausreichend Platz zum Spielen. Bei der Frage, ob Menschen Teil der Natur sind, waren sich die Kinder uneins.
Solche Untersuchungen zeigen, dass Kindergartenkinder alles Menschengemachte klar vom Natürlichen trennen. Sie haben bereits von den Erwachsenen gelernt, wofür das Wort „Natur“ steht. Die Natur war schon lange da, Städte wurden später gebaut. Mit dieser Zweiteilung der Welt in eine vom Menschen unabhängige Natur und eine vom Menschen gemachte Kultur wachsen wir von Anfang an auf. Aber die Natur war nicht schon immer da. Das Wort, mit dem wir sie benennen taucht zum ersten Mal in Homers Odyssee auf (dort: physis). Wie der französische Anthropologe Phillipe Descola und andere gezeigt haben, fehlt zum Beispiel in animistisch denkenden Gesellschaften nicht nur das Wort, sondern insgesamt die Abgrenzung eines natürlichen Bereichs, der unabhängig vom Menschlichen, Kulturellen existieren würde.
Für animistisch denkende Menschen sind Tiere, Pflanzen sowie manche markanten Landschaftsmerkmale oder Himmelskörper „Leute“, also Personen, die nur ein „anderes Hemd“ tragen. Tierpersonen haben genau wie Menschen ihre sozialen Praktiken, erfahren aber die Welt gemäß ihrer körperlichen Ausstattung etwas anders als wir. Das heißt, im Animismus gibt es bezüglich der inneren Fähigkeiten (Bewusstsein, Denken, Sozialität) keinen Unterschied zwischen Menschen und Nichtmenschen. Ein Unterschied besteht einzig in den äußerlichen Merkmalen, welche die Welt prägen, die von Nichtmenschen erlebt wird. Wenn animistisch denkende Menschen Tiere essen, müssen sie Praktiken finden, die das Verzehren einer Person legitimieren können.
Dieses Problem haben wir naturalistisch denkenden Menschen nicht. Für uns gehören Tiere in den Bereich des Natürlichen, wir teilen mit ihnen nicht den Status als Person mit Rechten und Pflichten. Wir machen einen deutlichen Unterschied, was die inneren Fähigkeiten von Nichtmenschen im Vergleich zu uns angeht. Uns wird zum Beispiel gesagt, dass die Heuschrecke, der wir bei lebendigem Leib die Kehle aufschneiden, um am Halskonnektiv Aktionspotentiale abzuleiten, keinen Schmerz empfinden kann, ganz zu schweigen davon, dass sie ihre Qualen bewusst wahrnehmen könnte. Dafür sehen wir Ähnlichkeiten zwischen unserem Körperbau und demjenigen anderer Lebewesen, wir formulieren Lehrsätze, die für alle gelten, zum Beispiel, dass alle aus Zellen aufgebaut sind.
Abgesehen von der Tatsache, dass die Natur ein eurozentristisches Konzept ist, waren die modernen Europäer, wie der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour behauptete, nie ganz ehrlich gegenüber der von ihnen vermeintlich praktizierten Trennung von Natur und Kultur. So sind Naturwissenschaftler*innen und ihre Apparate eher wie Repräsentant*innen natürlicher Dinge zu verstehen, die ähnlich wie in einem Parlament vor ihrer Kollegschaft für sie sprechen. Es erfordert viel Mühsal ein Experiment zu erfinden und solange zu modifizieren, bis sich die scientific community davon überzeugen lässt, den Fall als Fakt zuzulassen. Fakten haben daher eher den Charakter einer verhandelten Sache. Obwohl sich in ihnen gesellschaftliche Praktiken und Eigenschaften natürlicher Dinge vermischen, sollen sie dennoch „für sich sprechen“. Aber die natürlichen Fakten sind nicht nur dem Wort nach von Menschen „gemacht“ (factum = lat. für „Gemachtes“), genauso wie unsere Kultur von auf Naturgesetzen beruhenden Errungenschaften zusammengehalten wird.
Noch weiter geht Karen Barad von der University of California in Santa Cruz. Wir alle haben vom Teilchen-Welle-Dualismus des Lichts im Physikunterricht gehört. Nach Niels Bohr ist das, was Licht ist, an sich unbestimmt. Erst der Aufbau des Experiments entscheidet, ob es ein Teilchen oder eine Welle ist. Bohrs Schlussfolgerung, dass das, was etwas ist, untrennbar mit dem zusammenhängt, wie, das heißt, mit welchem Apparat es untersucht wird, ist Ausgang für Barads „Agentiellen Realismus“. Hier gibt es keine von uns unabhängige äußerliche Welt, der wir als Subjekte gegenüberstehen. Erst durch das Aufeinandertreffen der Art des Messens mit den Auswirkungen, die das, was durch die Messung Objekt wird, auf dem Messgerät hinterlässt, wird das Objekt vom Subjekt getrennt und ihm seine Eigenschaften zugewiesen. Das heißt Messmethode und Existenz des Objekts gibt es erst durch dieses Aufeinandertreffen. Solch ein Aufeinandertreffen von Aktivitäten nennt Barad Intra-Aktion. Alles, was da „intra-agiert“, entsteht erst durch diese Intra-Aktion, all die Trennungen, von Innen / Außen, Subjekt / Objekt, Kultur / Natur, ja selbst Raum, Zeit und Materie werden durch sie hervorgebracht, anstatt vorher schon zu existieren. Egal welche unserer Vorstellungen von Welt es betrifft, wir sind immer Teil von dem, was wir untersuchen oder verstehen wollen.
Anthropolog*innen, Soziolog*innen und die Philosophie-Physik sagen uns also, dass es keine unabhängig von uns existierende Natur gibt, und dennoch sind alle unsere Praktiken, unser Denken, das was wir in der Schule oder der Universität lernen, auf der Trennung von Natur und Kultur aufgebaut, schon im Kindergarten. Gerade uns Biolog*innen, die wir als Naturwissenschaftler*innen besonders gewohnt sind, von einer von uns unabhängigen und absichtslosen Natur auszugehen, scheint das den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber vielleicht bietet uns die Abschaffung der Natur auch eine Chance unsere Disziplin neu zu denken und widerspruchsfreier mit dem umzugehen, was wir zu lieben oder zu schützen vorgeben. Vielleicht finden wir, wie die US-amerikanische Biologin und Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway vorschlägt, im Spielen mit andersartigen Wesen Wege, mit ihnen etwas Anderes zu werden als die ewigen Ausbeuter*innen natürlicher Ressourcen. Also: lieber ein Platz zum Spielen und zum verantwortungsvollen, guten, gemeinsamen Leben und Sterben anstatt der Natur?
Als Beispiel dafür, wie die oben viel zu kurz zusammengefassten und in Wahrheit selbstverständlich viel komplizierteren Positionen in Lehre und Ausbildung an unserem Institut berücksichtigt werden könnten, sind unter diesem LINK abwechselnd Folien und Text der ersten Vorlesung zum Modul „Zoologie und Humanbiologie“ zu sehen. Dieses Modul ist eine Dienstleistung unseres Instituts für Bachelorstudierende der Grundschulpädagogik.