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Aktuelles Forschungsprojekt

Wie die Trennung von Umgangs- und Fachsprache im Chemieunterricht den Erwerb von fachwissenschaftlichen und kommunikativen Kompetenzen begünstigen kann

 

Um Bildungsgerechtigkeit in Zeiten zunehmender Diversifizierung und Heterogenität – insbesondere in Migrationsgesellschaften wie Deutschland – sicherzustellen (Stanat, Schipolowski, Mahler, Weirich, & Henschel, 2019, 444), sind Akteure im Bereich naturwissenschaftlicher Bildung mehr denn je gefordert, auch auf solche Schüler*innen zu achten, die in ihren je individuellen Bildungsgängen besonderen Herausforderungen begegnen und diese erfolgreich meistern müssen (Stanat et al., 2019, 444–445). Aktuelle nationale als auch internationale Schulleistungsvergleichsstudien, wie die aktuelle PISA-Studie (Reiss, Weis, Klieme, & Köller, 2019, 77) oder der IQB-Bildungstrend (Stanat et al., 2019, 445), identifizieren in besonders großem Maße Schüler*innen, deren Sprachstand noch nicht ausreicht, um den durch die Bildungsstandards und Rahmenlehrpläne festgelegten, schulischen und damit verbundenen, gesellschaftlich definierten Ansprüchen zu genügen (Bolte & Pastille, 2010, 34–35). Unzureichende sprachliche Kompetenzen wirken sich auch auf die Leistung von Lernenden in naturwissenschaftlichen Fächern negativ aus (Bird & Welford, 1995, 396–397; Bolte & Pastille, 2010, 27; Childs, Markic & Ryan, 2015, 421; Schmellentin, Lindauer & Beerenwinkel, 2016, 230).

In der allgemeindidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung besteht weitgehend Konsens bezüglich der Erkenntnis, dass den sprachlichen Herausforderungen für einen Großteil der Lernenden nur durch eine durchgängige Sprachbildung als Querschnittsaufgabe sämtlicher Fächer zu begegnen wäre (Gogolin & Lange, 2011, 118). Bei der Ausgestaltung dieses Desiderats in der Schulpraxis hat sich bisher jedoch noch keine unterrichtspraktische Herangehensweise als besonders förderlich oder erfolgreich durchgesetzt. Aus diesen Gründen ist es auch weiterhin lohnenswert, Verfahren zur integrativen Sprachbildung aus der Perspektive der jeweiligen Fachdidaktiken zu entwickeln und mit Blick auf ihre Wirksamkeit zu evaluieren (Riebling, 2013, 17).

Unter der Annahme, dass der Erwerb von fachsprachlicher Lexik in gewisser Hinsicht dem Erlernen einer Fremdsprache ähnelt (Rincke, 2011, 255–256), müsste ein erheblicher kognitiver Aufwand entstehen, wenn der Fokus des Lernens gleichzeitig auf Fachinhalt und die entsprechende Fachterminologie gerichtet wird. Es gibt bereits Erkenntnisse, dass die Hürden, welche durch den gleichzeitigen Erwerb eines fachlichen Konzeptes und des dazugehörigen Fachterminus bezüglich des kognitiven Aufwands entstehen, vielen Lernenden die Chance auf ein besseres Abschneiden im naturwissenschaftlichen Unterricht verwehren (Brown, Ryoo & Rodriguez, 2010, 1479-1480; Brown, Donovan & Wild, 2019, 766).

Untersuchungen im multilingualen, angloamerikanischen Sprachraum haben gezeigt, dass das Erlernen von naturwissenschaftlichen Konzepten dann zu höheren Lernleistungen und zu Formen verbesserter Artikulation des Verständnisses bei allen Lernenden führte, wenn zunächst alltagssprachliche Mittel verwendet wurden (Brown et al. 2010; McDonnell, Barker, & Wieman, 2016; Ryoo, 2015; Schoerning, 2014). Brown et al. (2010) haben dazu im Fach Science Unterrichtssequenzen am Beispiel des Themas Fotosynthese entwickelt und deren Implementation empirisch begleitet, um die Wirksamkeit des Ansatzes zu überprüfen. Die von ihnen gewählte Herangehensweise, die sie als Disaggregate Instruction bezeichnen, sieht erst nach erfolgtem Konzepterwerb die Einführung der naturwissenschaftlichen Fachtermini vor (Brown et al., 2010).

Den vielversprechenden Ansatz der Disaggregate Instruction möchten ich aufgreifen und an die in einer Großstadt anzutreffenden Rahmenbedingungen einer heterogenen Schülerschaft anpassen, um folgenden Forschungsfragen nachzugehen:

  • FF1: Inwiefern werden Lernende beim Erwerb chemischen Fachwissens und in der Entwicklung ihrer chemiebezogenen kommunikativen Kompetenzen unterstützt, wenn sachlogische Sequenzen von Unterrichtsstunden zunächst in stark alltagssprachlich geprägte und erst im späteren Verlauf in bildungs- und fachsprachliche Abschnitte (gemäß dem Disaggregate-Instruction-Ansatz) zerlegt werden?
  • FF2: In welchem Maße profitieren (bildungs-)sprachlich schwache Lernende vom Disaggregate-Instruction-Ansatz? Welchen Nutzen können (bildungs-)sprachlich qualifizierte Schüler*innen aus diesem Ansatz ziehen?
  • FF3: Welche Auswirkungen übt die Umsetzung des Ansatzes auf die Entwicklung der Fähigkeiten im Kompetenzbereich chemiebezogener Kommunikation aus (im Sinne der Nationalen Bildungsstandards KMK, 2004, 12-13)?

Inspiriert von den skizzierten Untersuchungen konzipiere ich eine Sequenz von Unterrichtsstunden für den Chemie-Anfangsunterricht in Anlehnung an den Berliner Rahmenlehrplan zum Thema Salze (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin, 2006, 36-37) auf der Basis des Disaggregate-Instruction-Ansatzes (Brown et al., 2010). Die Wirksamkeit dieser Unterrichtssequenz werde ich anschließend im Rahmen einer Interventionsstudie im Treatment-Kontrollgruppen-Design mit Testwiederholungen untersuchen.

Bird, E., & Welford, G. (1995). The effect of language on the performance of second‐language students in science examinations. International Journal of Science Education, 17(3), 389–397. https://doi.org/10.1080/0950069950170309

Bolte, C., & Pastille, R. (2010). Naturwissenschaften zur Sprache bringen. Strategien und Umsetzung eines sprachaktivierend naturwissenschaftlichen Unterrichts. In G. Fenkart, A. Lembens, & E. Erlacher-Zeitlinger (Hrsg.), Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften (S. 26–46). StudienVerlag.

Brown, B. A., Donovan, B., & Wild, A. (2019). Language and cognitive interference: How using complex scientific language limits cognitive performance. Science Education, 103(4), 750–769. https://doi.org/10.1002/sce.21509

Brown, B. A., Ryoo, K., & Rodriguez, J. (2010). Pathway Towards Fluency: Using ‘disaggregate instruction’ to promote science literacy. International Journal of Science Education, 32(11), 1465–1493. https://doi.org/10.1080/09500690903117921

Childs, P. E., Markic, S., & Ryan, M. C. (2015). The Role of Language in the Teaching and Learning of Chemistry. In J. García-Martínez & E. Serrano-Torregrosa (Hrsg.), Chemistry Education: Best Practices, Opportunities and Trends (First, S. 421–446). Wiley-VCH.

Deutsches PISA-Konsortium. (2001). PISA 2000 (J. Baumert, E. Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider, P. Stanat, K.-J. Tillmann, & M. Weiß (Hrsg.)). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83412-6

Gogolin, I., & Lange, I. (2011). Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In S. Fürstenau & M. Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit (S. 107–127). VS, Verl. für Sozialwiss.

KMK. (2004). Bildungsstandards im Fach Chemie für den Mittleren Schulabschluss. Luchterhand. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Bildungsstandards-Chemie.pdf

Lengyel, D. (2010). Bildungssprachförderlicher Unterricht in mehrsprachigen Lernkonstellationen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 13(4), 593–608. https://doi.org/10.1007/s11618-010-0164-1

McDonnell, L., Barker, M. K., & Wieman, C. (2016). Concepts first, jargon second improves student articulation of understanding. Biochemistry and Molecular Biology Education, 44(1), 12–19. https://doi.org/10.1002/bmb.20922

Reiss, K., Weis, M., Klieme, E., & Köller, O. (Hrsg.). (2019). PISA 2018. Waxmann Verlag GmbH. https://doi.org/10.31244/9783830991007

Riebling, L. (2013). Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht: eine Studie im Kontext migrationsbedingter sprachlicher Heterogenität. http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783830978046

Rincke, K. (2011). It’s Rather like Learning a Language: Development of talk and conceptual understanding in mechanics lessons. International Journal of Science Education, 33(2), 229–258. https://doi.org/10.1080/09500691003615343

Ryoo, K. (2015). Teaching Science Through the Language of Students in Technology-Enhanced Instruction. Journal of Science Education and Technology, 24(1), 29–42. https://doi.org/10.1007/s10956-014-9518-4

Schmellentin, C., Lindauer, T., & Beerenwinkel, A. (2016). Sprachbewusster Naturwissenschaftsunterricht – Werkstattbericht zu einem transdisziplinären Entwicklungsprojekt. In I. Winkler & F. Schmidt (Hrsg.), Interdisziplinäre Forschung in der Deutschdidaktik. „Fremde Schwestern“ im Dialog (Bd. 2, S. 225–246). Peter Lang.

Schoerning, E. (2014). The Effect of Plain-English Vocabulary on Student Achievement and Classroom Culture in College Science Instruction. International Journal of Science and Mathematics Education, 12(2), 307–327. https://doi.org/10.1007/s10763-013-9398-8

Stanat, P., Schipolowski, S., Mahler, N., Weirich, S., & Henschel, S. (2019). IQB-Bildungstrend 2018. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I im zweiten Ländervergleich. Waxmann.